Die blauen Schuhe
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Es lebte einmal ein junger Hirt, der hatte sich eine Frau
genommen. Und nachdem
sie einige Zeit zusammen gelebt hatten, wurde die Frau
schwanger.
Die Frau gab einem Mädchen das Leben, und als man es zur Taufe
trug, wurde es
Irene genannt.
In der Nacht nach der Taufe hörte die Mutter Schritte in der
Stube, und da der Mond
schien, konnte sie sehen, daß sich eine Frau mit einem blauen
Schleier dem Bett
des Kindes näherte, und sie sah sie dort etwas hinstellen und
wußte nun, daß es die
Mira des Kindes sei, die da durch die Stube ging.
Und als sie am nächsten Morgen zur Wiege des Kindes ging, sah
sie, daß dort ein
Paar kleiner Schühlein stand, blau, von tintenblauer Farbe. So
war es. Als Irene
dann anfing zu laufen, zog ihr die Mutter diese blauen Schuhe
an, und sie paßten,
als wären sie eigens für das Mädchen gemacht.
Es vergingen die Jahre - drei Jahre, vier Jahre, sechs Jahre -
und Irene wurde immer
größer. Aber das Seltsame war, daß auch die Schuhe, die blauen
Schuhe, mit ihr
mitwuchsen und ihr immer paßten. Sie trugen sich nicht ab und
zerrissen nicht; das
Leder war immer wie neu. Freilich: das Mädchen zog die Schuhe
nur am Sonntag
an, unter der Woche brauchte es keine Schuhe.
Es vergingen die Jahre - zehn Jahre, zwölf Jahre, vierzehn
Jahre und Irene war nun
schon erwachsen. Zu einem hübschen jungen Weib war sie
geworden. Es fehlte ihr
nicht an Liebhabern, aber sie wies alle ab, bis sie eines
Tages einen jungen Hirten
kennenlernte, einen jungen Burschen, der Ilie hieß.
Und den hat sie dann geheiratet. ja, so war es.
Die beiden jungen Leute hätten die glücklichsten der Welt sein
können, aber sie
litten darunter, daß sie viele Tage im Jahr getrennt leben
mußten, weil Ilie mit seinen
Herden oft unterwegs war.
Und als Irene wieder einmal allein daheim weilte, kam einer
ihrer früheren Bewerber.
Er ging in ihr Haus hinein und sagte: »Irene, früher hast du
nichts von mir wissen
wollen. Wie steht es jetzt damit?« - »Ich«, sagte Irene, »ich
habe früher nichts von
dir gewollt und ich will auch heute nichts von dir.« So sagt
sie.
Aber der Bursche gibt nicht nach. Er sagt: »Ach, Irene, wenn
du doch nicht so dumm
wärst! Wir könnten uns gern liebhaben.« »Aber du weißt jetzt,
daß ich verheiratet
bin«, sagte Irene. »Nun, was macht das schon«, sagt der
Bursche, "dein Mann
braucht es ja nicht zu wissen, und dein Schade sollte es nicht
sein. Schau, wieviel
Geld ich dir geben würde!« Und damit hält er ihr einen Beutel
voll Geld hin.
»Scher dich zum Teufel mit deinem Geld!« sagte Irene, »ich
werde es dem Ilie
sagen, wie du mir nachstellst und was du mir angetragen hast.«
Da wird der Bursche sehr zornig: »Was? Du willst mir mit Ilie
drohen? Da mußt du
erst einmal sehen, daß du ihm alles erzählen kannst. Ich werde
es dir schon besorgen!«
ja, so war es.
Der Bursche aber geht hin, er lauert zusammen mit einem andern
dem Ilie auf, sticht
ihn mit einem Messer nieder, während der andere ihn festhält.
So verblutet Ilie bei seiner Herde.
Und dort verscharren die beiden den Ilie, dann nehmen sie
seine Herde und treiben sie weg.
Irene aber wartet und wartet. Alle andern Hirten kommen heim,
aber Ilie und seine
Herde ist nicht dabei. Und da geht sie herum, und sie fragt
hier und sie fragt dort:
»Habt ihr meinen Mann nicht gesehen?« - »Nein, wir haben ihn
nicht gesehen.« -
»Habt ihr den Ilie nicht gesehen?« - »Nein, wir haben ihn
nicht gesehen.«
Nur ein alter Hirt sagt: Am Gebirge habe ich ihn zuletzt
gesehen. Er muß dort oben geblieben sein.«
ja, so war es.
In der Nacht aber hatte Irene einen Traum. Ihr träumte, eine
Frau, blau gewandet,
käme in ihre Stube, stelle sich vor ihr Lager und spräche:
»Irene, ziehe morgen
deine blauen Schuhe an und geh dort hin, wohin dich deine
blauen Schuhe tragen.«
Am nächsten Tag zieht Irene ihre blauen Schuhe an, und kaum
hat sie diese an den
Füßen, da spürt sie den Drang zu laufen. Und sie geht und sie
geht. Sie geht immer
weiter ins Gebirge hinauf, und am Abend ist sie dort, wo die
Herde des Ilie gewesen
war. Und sie findet dort ein kleines Grab, und als sie zum
Grabe hingeht, kommt aus
den Büschen heraus eine blau gekleidete Frau.
»Irene«, sagt sie, »dein Mann Ilie schickt mich zu dir.« -
»Und wo ist er?« fragt Irene.
»Er wohnt jetzt in einem andern Land unter der Erde.« - »Und
kannst du mich nicht
dorthin zu ihm führen?« »Freilich kann ich das, wenn du es
willst.« - »Ja, dort, wo
mein Mann ist, möchte auch ich sein.« - »Du hast Glück, daß du
deine blauen
Schuhe anhast«, sagt die Mira, »hättest du sie nicht
angezogen, könnte ich dich nicht führen.«
Und dann hat sie Irene mit sich genommen, in eine Höhle sind
sie gegangen, deren
Öffnung sich hinter ihnen geschlossen hat. Und so ist sie
wieder zu ihrem Mann gekommen.
Mehr weiß ich nicht.
Dieses Märchen wurde mir von Dieter [chax@wtal.de]
zur Verfügung gestellt.
27.04.99